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Predigten

Der Evangelist Lukas: Der beste Schriftsteller

Predigt von P. Anselm Grün OSB am 7. Ostersonntag

An den Büchertagen, die heute hier zu Ende gehen, haben viele Schriftsteller ihre Bücher vorgestellt. Einer der besten Schriftsteller ist der Evangelist Lukas. Er ist ein begnadeter Schriftsteller. Er versteht die Kunst, so zu erzählen, dass sich der Leser darin wieder findet und durch die Erzählung verwandelt wird. Seine narrative Theologie erreicht die Herzen der Menschen als eine argumentierende Theologie. Das hat die moderne Betriebswirtschaftslehre erkannt. Der Erfolg einer Firma hängt vor allem davon ab, ob sie ein gutes Narrativ, eine gute Erzählung hat, auf die sie sich gründet. Jede Religion lebt von guten Erzählungen. Die Juden erzählten immer wieder den Auszug aus Ägypten. Und wir Christen erzählen uns immer wieder die Geschichte Jesu. Lukas erzählt aber nicht nur die Geschichte Jesu, sondern auch die der Kirche. So könnte seine Erzählung für die heutige Kirche eine Quelle von Kraft und Inspiration sein.

Die Erzählung klingt ganz einfach. Die 11 Apostel ziehen sich mit Maria und den Frauen in ein Obergemacht zurück und beten. Man muss zwischen den Zeilen lesen, um das Geheimnis dieser Erzählung und seine Botschaft zu entdecken. Für mich sind es vier Botschaften, die diese Erzählung uns verkündet.

Erstens: die Urgemeinde ist eine betende Gemeinde. Im Gebet findet sie ihre Identität. Im Gebet erkennt sie das Geheimnis Jesu. Kein Evangelist hat soviel vom Gebet Jesu gesprochen wie Lukas. Lukas verbindet das Gebet der Jünger mit dem Gebet Jesu. Das zeigt das Wort Ölberg. Am Ölberg hat Jesus vor seinem Leiden gebetet. Ein Engel kam, um ihn zu stärken. Am Ölberg wird Jesus in den Himmel erhoben. Und Engel sagen den Jüngern, sie sollen nicht ewig Zuschauer bleiben, sondern den Geist Jesu in die Welt tragen, die Welt mit dem Geist Jesu durchdringen und sie gestalten.

Zweitens: Das Gebet verbindet die Betenden miteinander. Hier sind es die Apostel und die Frauen, die als Zeuginnen der Auferstehung gleichberechtigt mit den Jüngern die Urgemeinde bilden. Bei den Aposteln erkennen wir verschiedene Kulturen, die einen tragen einen griechischen Namen und sind griechisch gebildet. Dann gibt es verschiedene politische Richtungen. Einer von ihnen gehört zu den Zeloten, zu den Partisanen. Und es gibt die Gruppe der Apostel und die Familie Jesu, die zeit seines Lebens ja eher kritisch war und ihn für sich vereinnahmen wollte. Alle beten einmütig, oder wie Lukas später sagt: sie werden im Gebet ein Herz und eine Seele. Dieses Bild der Urgemeinde, das uns Lukas hier zeichnet, ist gerade für unsere Kirche heute höchst aktuell. Heute gibt es viele Gräben innerhalb der Kirche. Die Liberalen sprechen nicht mehr mit den Konservativen und die nicht mehr mit denen, die die Kirche reformieren wollen. Es gibt auch heute Gruppen, die Jesus für sich vereinnahmen wollen, und andere, die eine neue Sicht auf ihn werfen. Das Gebet – so will uns Lukas sagen – sollte uns miteinander verbinden. Das Gebet überbrückt die Gräben. Solange wir beten, hoffen wir. Wir hoffen trotz aller Differenzen und Konflikte auf die Einmütigkeit, dass wir gemeinsam auf Gott schauen. Und im Gebet schauen wir gemeinsam auf Jesus, um zu erkennen, wer er eigentlich ist, was ihn zutiefst ausmacht. Im gemeinsamen Blick auf Gott relativieren sich die theologischen und spirituellen Gegensätze. Und auch die psychischen Gräben zwischen den verschiedenen Charakteren und Herkünften werden überbrückt. Alle werden im Gebet miteinander eins. Das ist ein Hoffnungsbild für unsere Kirche heute.

Eine dritte Wirkung beschreibt Lukas, indem er unmittelbar nach dieser Erzählung vom Gebet im Obergemach die Wahl des Matthias zum Apostel erzählt, der die Lücke des Judas auffüllen soll. Das Gebet führt also zur richtigen Entscheidung. Das hat Lukas ähnlich im Evangelium beschrieben, wenn er vor der Wahl der Apostel Jesus die ganze Nacht im Gebet verbringen lässt. Das Gebet wäre auch heute eine gute Hilfe, die Entscheidungen zu treffen, die dem einzelnen gut tun, die aber auch ein Segen sein können für die Kirche.

Eine vierte Wirkung beschreibt Lukas vom Gebet in der Urgemeinde. Im vierten Kapitel erzählt er, wie Petrus und Johannes nach ihrer Entlassung durch die Hohepriester zur Gemeinde gehen und miteinander beten. Lukas beschreibt die Wirkung des Gebetes so: „Als sie gebetet hatten, bebte der Ort, an dem sie versammelt waren.“ (Apg 4,31) Durch ihr Gebet kommt etwas in Bewegung. Da entsteht eine Schwingung. Das Gebet bleibt nicht im Versammlungsraum, es bleibt nicht in der Kirche. Es dringt in die Welt hinaus. Es bewirkt etwas in den Menschen. Lukas veranschaulicht das Gebet durch ein Stilmittel, das er der heidnischen Frömmigkeit entnimmt, um seine hellenistischen Leser von der Wirkung des Gebetes zu überzeugen. Wenn wir diese Freiheit des Lukas auf uns heute übertragen, so können wir die Wirkung des Gebetes durchaus auch mit psychologischen oder gar quantenphysikalischen Gründen beschreiben. Die Quantenphysik sagt uns, dass unsere Gedanken und Emotionen bis in die Materie hinein wirken. So können wir vertrauen, dass unser Gebet nicht im Kirchenraum bleibt, sondern hinausdringt in die Welt und dort die Voraussetzungen für das Verhalten der Menschen verändert. Und wir dürfen auch psychologische Gründe für die Wirkung des Gebetes anführen. Wir können durchaus verstehen, dass das Gebet uns selber verwandelt. Wenn wir für andere Menschen beten, fällt uns oft ein, was wir ihnen sagen könnten. Gebet ist kein Alibi für das Tun. Im Gebet erkennen wir auch, was wir konkret tun können. Und noch eine andere Wirkung hat das Gebet: Solange wir für jemanden beten, haben wir Hoffnung, dass dieser Mensch seinen Weg findet, dass er in Einklang kommt mit sich selbst, auch wenn sein Weg ganz anders sein wird, als wir ihn uns vorstellen. Solange wir für einen Sohn oder eine Tochter beten, die sich im Drogenmilieu verfangen haben oder unter Depressionen leiden, haben wir Hoffnung für sie. Und die Kinder spüren, ob wir ihnen mit Hoffnung begegnen oder ob wir sie aufgegeben haben. Solange wir für den Frieden beten, dürfen wir hoffen, dass diese scheinbar aussichtslose Situation zwischen Ukraine und Russland doch irgendwann zum Frieden führt. Wir können den Frieden nicht mit Gewalt erbeten, aber solange wir beten, strahlen wir Hoffnung auf Versöhnung und Frieden aus. Und diese Hoffnung wirkt weiter in die Gesellschaft, so wie die ersten Christen für ihre Umwelt Hoffnung ausgestrahlt haben, wie wir im ersten Petrusbrief lesen, der uns mahnt, über unsere Hoffnung Rechenschaft abzulegen, wenn wir danach gefragt werden.

Ein französischer Exeget nennt die Apostelgeschichte das Ringen um eine neue Humanität. Das ist die Aufgabe jeder Literatur, um eine neue Menschlichkeit zu ringen. Hilde Domin, die jüdische Dichterin, meint, Dichter hätten die Aufgabe, die Sprache zu schärfen, damit sie verbindet und nicht spaltet. Lukas zeichnet das Bild eines Menschen, der ein Gespür hat für seine Mitmenschen, der nicht bewertet, sondern versteht, und der sich verwiesen weiß auf die Mitmenschen. So könnte Lukas unsere Sehnsucht nach Verbundenheit stärken, die heute nach der Pandemie die Menschen mehr bewegt als je zuvor. Jetzt in dieser Eucharistiefeier erleben wir eine Verbundenheit in Jesus Christus, die stärker ist als alles, was uns voneinander trennt. Hoffen wir, dass diese Verbundenheit über den Raum der Kirche hinaus wirkt in unsere polarisierte Kirche und in unsere gespaltene Gesellschaft hinein, so dass die Kirche zu einem Sauerteig der Versöhnung und Hoffnung wird für diese Welt. Amen.