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Predigten

Der innere Punkt

Predigt von P. Frank Möhler OSB am 5. Sonntag in der Osterzeit zu Joh 13, 31-33a.34-35

Im Chassidismus, einer frommen Erneuerungsbewegung im östlichen Judentum des 18. Jahrhunderts, wird folgende Geschichte erzählt: Ein jüdischer Rabbi begann zu reden: "Wenn einer Führer wird, müssen alle nötigen Dinge da sein: ein Lehrhaus und Zimmer und Tische und Stühle, und einer wird Verwalter, einer wird Diener und so fort …" Als er damit zum Schluss gekommen war, fügte er hinzu:

"Und dann kommt der böse Widersacher und reißt das innerste Pünktlein heraus. Aber alles andere bleibt wie zuvor und das Rad dreht sich weiter. Nur das innerste Pünktlein fehlt. Fehlt dieses, dann fehlt das Herz, die Mitte. Das Tun wird seelenlos, äußerlich." Dann hob der Rabbi die Stimme: "Aber Gott helfe uns. Man darf 's nicht geschehen lassen!"

Was ist dieser innere Punkt überhaupt? Was ist das innerste Pünktliche, um das sich alles dreht, für mich? Die Mitte in einem Rad ist ja eine Leerstelle, etwas, was freigehalten werden muss, etwas Unverfügbares, um das sich alles dreht. Und ohne dies alles zusammenbrechen würde.

Für den Apostel Paulus ist dieses innerste Punktlein die Auferweckung Jesu. Wenn Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nichtig sagt Paulus (1 Kor 15, 17). Über dieses Aufweckungsgeschehen als solches wird in den Evangelien nichts berichtet im Sinne eine Protokolls. Es sind vielmehr immer persönliche Begegnungsgeschichten der Jüngerinnen und Jünger mit dem Auferstandenen. Es findet da Begegnung und Beziehung auf einer tieferen Ebene statt , die eine nachhaltige Änderung nach sich zieht. Der innerste Punkt unseres Glaubens ist der auferstandene, lebendige Christus, die Begegnung ihm. Darauf ist alles bezogen.

Das Rad, das Gefährt unseres Glaubens, die Kirche ist in den letzten Jahren ganz schön in Schleudern und Straucheln geraten. Überkommene Strukturen in der Pfarreien brechen zusammen, die rein männliche und monarchische Leitungsstruktur wird zunehmend angefragt, Skandale haben ein Erdbeben ausgelöst, Vieles was vor Jahren noch unantastbar schien, steht auf dem Prüfstand.

Man merkt, dass man nicht einfach so weitermachen kann. Aber eine große Chance besteht darin: Das Wesentliche unseres Glaubens, unsere Mitte, kann stärker in den Blick kommen.

Unser heutiges Evangelium beschreibt sehr konzentriert diese Mitte. Der Evangelist Johannes spricht von der Verherrlichung Gottes in Christus. Verherrlichen bedeutet vom Griechischen her ursprünglich: zur Geltung bringen, hervortreten lassen. In Christus, in seiner Hingabe am Kreuz wird die ursprüngliche Herrlichkeit Gottes ans Licht gebracht. Im österlichen Geschehen – im Leiden, im Tod und in der Auferweckung Jesu kommt ans Licht, wer Gott ist und um was es ihm geht.

So sehr liebt Gott, dass er sich in seinem Sohn für uns hingibt. Dies ist sozusagen der Gipfel der Liebe Gottes zu den Menschen, sein innerster Punkt. Gott wird durch Christus verherrlicht, zur Erscheinung gebracht. Aber auch Christus wird durch seine Jünger und durch den Hl. Geist, der in ihnen wohnt, verherrlicht.

Wie geht das, wie können wir Gott verherrlichen, ihn aufscheinen, seine Wirkmacht zur Geltung bringen? Jesus gibt dazu die Anleitung: Liebt einander, wie ich euch geliebt hatte, so sollt auch ihr einander lieben. (Joh 13, 34). Diese Liebe ist das Erkennungszeichen Christi in der Welt und der Kernauftrag an die Kirche bis heute.

Leider haben wir im Deutschen nur den einen Begriff "Liebe", der eigentlich nicht präzise genug ist, um wirklich auszudrücken, was hier gemeint ist. Es geht um viel mehr als etwa um positive Gefühle oder um harmonisches Miteinander. Er geht Jesus um seine Form der Liebe, die wir erfassen, wenn wir darauf schauen, wie er sich hinunter beugt und den Jüngern die Füße wäscht.

Es ist die Liebe, die mich etwas kostet, die mir teuer ist, die ich mir etwas kosten lasse. Die Liebe, die mir sogar das eigene Leben kosten kann. Etwa vergleichbar mit der Hingabe in der Liebe, die Eltern ihren Kindern entgegenbringen, die Liebe, die sich Menschen engagieren lässt für eine gerechte Sache; die Liebe, die sich einmischt und auch gefährlich werden kann, wenn ich den Mund aufmache; die Liebe, die nicht das Ihrige, nicht ihren Vorteil sucht, wies es Paulus ausdrückt, sondern sich selbst in die Waagschale wirft.

Gerade in eine Welt, wo fast alles berechenbar ist und abgesichert ist, wo die Angst um sich selbst und das eigene Wohlergehen an oberste Stelle steht, da ist diese Liebe ein konkreter Beitrag zur Verherrlichung Gottes. Und bleibt auch eine Herausforderung für uns.

Es kommt aber noch etwas hinzu: Wenn wir den Auftrag Jesu zur Liebe anschauen wird oft ein kleines, aber wichtiges Wort vergessen: einander. Liebt einander! Die Liebe hat nicht nur ein Geben, sondern auch ein Empfangen Dürfen. Sie ist nur in dieser Gegenseitigkeit lebbar, sonst wird sie kaum gelingen. Deshalb betonen die neutestamentlichen Schriften für diese konkrete Liebe immer die Gegenseitigkeit in einer Gemeinschaft, einer Familie oder einer Gemeinde. Ich muss mich daher auch lieben lassen können bzw. mir die Füße waschen lassen können.

Grundauftrag Jesu bezieht sich auf das gegenseitige Achten, Schätzen, Annehmen und wird dann auch ausgeweitet werden auf einen größeren Zusammenhang, zum Beispiel und Vorbild für alle:
Daran werden alles erkennen, dass ihr meine Jünger sein, wenn ihr einander liebt (Joh 13, 35).

Die Eucharistie ist das Mahl dieser Liebe. Wir werden hineingenommen in die Liebe Christi und werden auch ausgesandt, diese im Alltag zu leben. Der Mystiker Meister Eckardt erzählt folgende Geschichte:
Ein Weiser wurde gefragt, welches die wichtigste Stunde sei, die der Mensch erlebt, welches der bedeutendste Mensch der ihm begegnet und welches das notwendigste Werk sei. Die Antwort lautet: Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersitzt, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.

Die Liebe - das ist eine Sache der rechten Aufmerksamkeit; dass ich ganz da bin und dabei bin; dass ich mich wirklich einlassen kann auf die Menschen, auf die Situation. Und: Das können wir nur, weil wir wissen, dass er uns schon vorher geliebt: Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Dies ist Erfahrung der Gegenwart Jesu, die uns hilft, seinen Auftrag der Liebe zu erfüllen.

Passen wir auf, dass dieses innerste Pünktlein nicht herausgerissen wird. AMEN.

Von P. Frank Möhler OSB