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Predigten

Genauer hinschauen

Predigt von Br. Pascal Herold OSB am 4. Fastensonntag

Liebe Schwestern und Brüder, 

ein Bild prägte sich in mir ein, das ich vor vielen Jahren in Tanzania öfters gesehen habe. Obwohl das Ereignis lange zurückliegt ist es in mir bis heute präsent vor Augen. Auf dem Klostergrundstück der Abtei Ndanda rutschte ein junger Mann auf platt gescheuerten Kniescheiben hin und wieder auf der Straße lang. Er schien nicht stehen zu können und benutzte daher seine Kniescheiben zum Aufrechtstehen als seien sie die tragenden Füße, sodass sie durch das mühsame Vorankommen richtig glatt gerieben und die Füße nach hinten ausgestreckt waren. Da er keine Hilfsmittel hatte, blieb ihm nur diese Weise sich fortzubewegen. In der biblischen Sprache würde er wegen der Körperbehinderung als Krüppel bezeichnet werden, wie wir es z. B. im Matthäusevangelium lesen, es heisst: „Da kamen viele Menschen und brachten Lahme, Krüppel, Blinde und Stumme zu Jesus“. Immer wenn ich diesen Mann sah befiel mich Unbehagen – sehen zu müssen, dass ein Mensch sich über den Staub dahinschleppen und bestimmt auch Schmerzen haben musste. Ich sprach ihn darauf an. Er lächelte und gab kurz zurück, dass das für ihn ganz normal sei. Kein Wort einer Klage oder von Lebensfrust.

Im heutigen Evangelium unterstellen die Jünger einem Blinden wegen seines Sehmakels Sünder zu sein. „Rabbi, wer hat gesündigt“? Er selbst? Oder seine Eltern, sodass er blind geboren wurde? Ein unerhörter, heftiger Vorwurf, den Jesus bestreitet. Er hält dagegen, dass das Wirken Gottes sich gerade darin zeige und mehr mit uns zu tun hat, den vermeintlich Nichtsündern und körperlich Gesunden. Nach dieser Deutung gibt es eine innere Blindheit und die ist schlimmer und schwieriger zu beheben als die äußere, die rein körperliche. Wir könnten sie auch als Kurzsichtigkeit bezeichnen, nicht richtig hin zu schauen und dabei wahrzunehmen was vor meinen Augen tatsächlich sich abspielt. Häufig ist es ja so, dass wir bald unsere eigene Meinung bilden und versucht sind das flüchtig Wahrgenommene für unser Bild passend zu machen und zu werten ob es einer Tatsache entspricht oder nicht.

Für die Jünger war es klar, blind geboren zu sein ist eine Gottesstrafe. Selbst die Eltern des geheilten Mannes scheuen sich in der Öffentlichkeit zu ihrem Sohn zu stehen. In der Gesellschaft sind sie abgestempelt, die Ursache der Erkrankung muss ja auch mit ihnen zu tun haben, der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm. 

Der verkürzte Blick nimmt auch uns hier in die Pflicht genauer hinzuschauen und die Geschehnisse wirken zu lassen wie sie der Reihe nach ablaufen wo selbst Jesus in die Missgunst der Leute fällt.

Welche Wirkung haben anormale, also nicht gewohnheitsmäßige Bilder auf uns, wenn etwas nicht so ist, wie es eigentlich sein sollte? Erreichen sie uns? Berühren sie auch das innere Auge, als gäbe es ein inneres Sehvermögen, das uns zu verstehen gibt was gemeint und zu tun ist?

In der Lesung hörten wir den Herrn zum Propheten Samuel sprechen: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt, denn ich habe ihn verworfen“. Samuel erhielt den Auftrag den neuen König aus den Söhnen Isais als Nachfolger König Sauls ausfindig zu machen. Eigenartigerweise ist es der jüngste der Söhne, an den niemand denkt. David muss gerufen werden und erfüllt sicher nicht die Kriterien eines potentiellen Anwärters, da er schon aufgrund seines Alters nicht in Betracht kommen kann. Gott wirkt auf Samuel so lange ein bis er den Schafhirten David ausfindig gemacht hat. Und König David geht in die Geschichte des Volkes Israel ein als der meistgenannte König des Alten und Neuen Testamentes. Er ist der Unscheinbare, durch den Gottes Wirken offenbar wird mit allen Höhen und Tiefen seines Lebens, der bekennen wird: „Zwar bin ich in Schuld geboren, in Sünde bin ich, seit mich die Mutter empfing, doch an Wahrheit im Innersten hast du Gefallen, im Geheimen lehrst du mich Weisheit!“ (Ps 51,7.8) 

König David erkennt sich bis zum Lebensende mehr und mehr als schwacher und sündiger Mensch, er bleibt jedoch nicht in dem Sünderstatus verharren. Er fühlt die Notwendigkeit das innere Auge wieder weitsichtig werden zu lassen um der Weisheit Gottes eine weitere Chance geben zu können – im Geheimen lehrst du mich Weisheit. 

Gott wirkt auf seine Weise. Wir kennen das Wort aus dem 1.Korintherbrief: „Das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist zu vernichten“. An der Oberfläche sehen wir nur einen gewissen Teil des Ganzen, die Tiefenwirkung kann zu Wirkungen führen, die nicht in unser Denkschema passen aber ihre eigentliche Bedeutung haben. Denken wir an Mutter Teresa, die ihren Orden verließ um den Schwachen, den Sterbenden auf den Straßen Kalkuttas ein Gesicht zu geben. Dazu gründete sie die Missionarinnen der Nächstenliebe, oder an den hl. Franziskus, für den ein Pestkranker den Wendepunkt in seinem Leben markiert mit einer überraschenden Auswirkung. 

‚Wahrscheinlich trifft man im Leben ‚nur‘ auf das, auf was zu treffen man bereit ist‘, so der Arzt und Schriftsteller Curt Emmrich, bekannt unter seinem Schriftstellernamen als Peter Bamm. Er war während des 2. Weltkrieges Lazarettleiter und setzte sich für die Behandlung feindlicher Kriegsgefangener und Zivilpersonen besetzter Länder ein. Er ging über die Grenzen menschlicher Berechnung hinaus und handelte, ohne auf Konsequenzen zu achten. Seinen Sinnspruch könnte ich so formulieren: „Wahrscheinlich sehe ich im Leben nur das, wozu ich zu sehen bereit bin“. Nicht selten sehen wir ja im Alltag viel mehr als uns recht und lieb ist und wir dabei verspüren, unmittelbarer reagieren zu sollen, es aber aus Gründen wie Angst vor Courage oder Blamage, Angst vor Veränderungen und Konsequenzen oder aus reiner Bequemlichkeit nicht tun.

Gottes Wirken will auch in unserem Leben offenbar werden - und wenn es scheinbar nach unserem Dafürhalten noch so unbedeutend ist. Es wird sich mehr und mehr ausprägen wie das schrittweise Sehendwerden des Blindgeborenen. Er hatte es schwer der Wirklichkeit des Lebens zu begegnen, denn die Leute, die ihn kannten hatten ihre Schwierigkeit mit seiner Heilung und betrachteten ihn als Missetäter. Er aber fand auch durch diese Widerstände hindurch und wurde zu Jesu Lebzeiten ein wichtiger Augenzeuge und Bekenner seiner Heilkraft. Wahrscheinlich trifft man im Leben auf das, was zu treffen man bereit ist – noch besser! Wahrscheinlich treffe ich im Leben auf das, was zu treffen ich bereit bin - Jesus ist dazu bereit!