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Predigten

Wir hören Jesu Liebe

Predigt von P. Anselm Grün am 4. Ostersonntag.

Heute am Guten-Hirten-Sonntag zeigt uns Jesus im Evangelium nicht nur, wie Bischöfe und Priester, wie Seelsorger und Seelsorgerinnen gute Hirten und Hirtinnen sein können. Es geht auch darum, dass wir füreinander zu Hirten und Hirtinnen werden und dass wir auch zum Hirten und Hüter der eigenen Seele werden, wie es im 1. Petrusbrief heißt. In diesem Sinn wollen wir die Worte Jesu meditieren: „Meine Schafe hören auf meine Stimme; ich kenne sie und sie folgen mir. Ich gebe ihnen ewiges Leben. Sie werden niemals zugrunde gehen, und niemand wird sie meiner Hand entreißen.“

Wir hören die Stimme Jesu, nicht nur seine Worte, sondern seine Liebe, seine Kraft, die in diesen Worten steckt. Beim Propheten Jesaja heißt es: „Höre und du wirst leben.“ Wenn wir die Worte Jesu wirklich in unser Herz einlassen, dann wecken sie in uns neues Leben, dann bringen sie uns in Berührung mit unserem wahren Selbst.

Jesus sagt: „Ich kenne sie.“ Das griechische Wort „gignoskein“ mein ein intimes Kennen. Es wird auch gebraucht für das Einswerden zwischen Mann und Frau. Jesus kennt uns durch und durch, mit all unseren Schattenseiten, mit all dem inneren Chaos. Und er nimmt uns trotzdem bedingungslos an. Das ist unsere tiefste Sehnsucht, nicht nur in der Beziehung zu Jesus, sondern auch in jeder Partnerschaft und Freundschaft. Je näher wir uns kommen, desto weniger können wir unser Inneres verbergen, desto mehr lernt uns der andere kennen, auch mit unseren Fehlern und Schwächen. Doch wir sehnen uns danach, dass wir bei ihm sein dürfen, wer wir sind, dass wir trotzdem ganz und gar angenommen werden. Und das gilt auch für uns selbst. Manche Menschen haben Angst, sich selbst kennen zu lernen. Wir werden zum Hirten unserer Seele, wenn wir trotzdem Ja zu uns sagen.

Dann sagt Jesus von den Schafen: „Sie folgen mir.“ Wir sollen Jesus folgen und nicht irgendeinem Guru. Wir sollen der Stimme Jesu folgen, die wir in unserem Inneren hören. Wenn wir nur andern folgen, besteht die Gefahr des geistlichen Missbrauchs. Andere wollen uns sagen, was wir tun sollen und wer wir sind. Doch dann werden wir abhängig von ihnen. Jesus unterscheidet die Stimme des Hirten, dem die Schafe folgen, von der Stimme der Diebe und Räuber, der die Schafe nicht folgen. Die Frage ist, wie wir heute die Stimme des guten Hirten von der Stimme des Diebes unterscheiden können. Die frühen Mönche geben ein Kriterium für unsere Unterscheidung an. Die Stimme Jesu führt in größere Lebendigkeit, Freiheit, Liebe und Frieden hinein. Die Stimme der Diebe führt in die Enge, in die Angst und in die Härte. Wenn wir der Stimme Jesu folgen, dann schenkt er uns ewiges Leben. Ewiges Leben ist voller Lebendigkeit und Freiheit. Da fühlen wir uns frei von den Erwartungen und Bewertungen der Menschen. Und ewiges Leben ist geprägt von der Liebe, die uns ganz und gar durchdringt und unserem Leben einen neuen Geschmack verleiht. Und es drückt sich aus im Frieden mit uns selbst und im Frieden mit den Menschen. Ewiges Leben ist nicht nur das Leben nach dem Tod. Es ist schon hier eine neue Qualität des Lebens. Und dieses ewige Leben kann auch durch den Tod nicht zerstört werden.

Jesus verheißt seinen Schafen: „Sie werden niemals zugrunde gehen.“ Das griechische Wort kann man auch übersetzen: sie werden sich niemals verlieren. In Gesprächen höre ich oft: Ich habe mich selbst verloren. Ich habe meine Mitte verloren, meine Leidenschaft, meine Ideale, meine Kraft. Die Frage ist, wie ich mich wiederfinde. Ein Weg ist für mich: Ich meditiere Worte Jesu und stelle mir vor: Wenn dieses Wort stimmt, wie fühle ich mich dann? Ich lasse z.B. das Wort Jesu in mich eindringen „Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht“. Und ich stelle mir vor: Das ist die eigentliche Wahrheit, das bin ich. Dann erahne ich, wer ich bin, dann komme ich mit meinem wahren Selbst in Berührung, dann komme ich zu mir, in meine Mitte.

Die nächste Verheißung Jesu lautet: „Und niemand wird sie meiner Hand entreißen.“ Jesus zieht seine Hand nicht von uns weg, er lässt uns nicht fallen. Wir können aus seinen guten und liebenden Händen nicht herausfallen. Wir sind getragen, geborgen, ganz gleich, wie es uns gerade geht. Auch wenn uns Gott abwesend erscheint, auch wenn wir ihn nicht spüren, so gilt doch: Ich werde nicht aus den Händen Jesu herausfallen. Ich bin getragen. Diese Gewissheit trägt mich durch mein Leben.

Wir feiern heute nicht nur den Guten-Hirten-Sonntag, sondern auch den Muttertag. Von der Mutter gilt, was Jesus über den guten Hirten, die gute Hirtin gesagt hat. Das Wesen der Mutter ist ja, nicht zu bewerten. Die Mutter hegt und pflegt das Leben, sie schenkt uns Geborgenheit und das Gefühl, willkommen zu sein. Jeder von uns hat etwas von dieser mütterlichen Qualität seiner Mutter erlebt, auch wenn sie nicht perfekt war. Dafür sollen wir dankbar sein. Der Muttertag lädt uns aber auch ein, mütterlich miteinander umzugehen, auch andern einen Raum von Geborgenheit zu vermitteln, einen Raum, in dem sie nicht bewertet werden, sondern in dem wir ihnen zutrauen, dass sie wachsen und heranreifen zu der einmaligen Gestalt, die Gott ihnen geschenkt hat. Werden wir väterliche und mütterliche Hirten und Hirtinnen, damit Menschen auch durch uns das Leben erfahren das uns Jesus verheißen hat, das geprägt ist von Lebendigkeit und Freiheit, von Frieden und Liebe. Amen.