Von Bäumen und Menschen - Der neue Ruf ist da
Die Hüterin meiner Kindheit
Jahrelang stand sie da, allein, mitten auf unserer Wiese: „unsere Eiche“. Mehrere hundert Jahre war sie alt, nach allen Seiten ausgreifend, knorrig, mächtig, trutzig. Eine wunderbare Schattenspenderin
vor allem im Hochsommer. Zur Zeit des Futtermachens und der Heuernte bekam sie Besuch – unter anderem von mir, anfangs im Kinderwagen, später dann um sie herum krabbelnd oder spielend.
So wuchs ich mit ihr heran. Sie erschien mir immer vertrauter und mir schien es, dass ich es auch für sie wurde. An ihrer rauen Rinde konnte man sich wunderbar durch das Hemd selbst am Rücken reiben, vor allem wenn die Sonne den Schweiß etwas arg oder juckend die Haut herunter laufen ließ.
Ihr konnte ich alles sagen
Je älter ich wurde, umso bewusster suchte ich „meine Eiche“ auf, auch zu anderen Jahreszeiten, zu Fuß oder zu Pferd. War ich in der Nähe, war ein Besuch die größte Selbstverständlichkeit, die es gab. Der Blick und das Winken schon von weitem gehörte genauso dazu, wie das antwortende Wiegen und Rascheln ihrer Blätter und Äste. Selbst mein Pferd wusste um dieses Ritual. Es blieb stehen, ich stieg ab, berührte spielend die untersten Äste, umarmte „meine Eiche“ und legte meine Wange an ihren Stamm – manchmal auch recht lange, je nachdem, was mein Herz gerade bewegte. Eine eigenartige Ruhe floss in mich hinein. Ihr konnte ich alles sagen. In meine Eiche konnte ich alles hineindenken und hineinfühlen. Sie hielt es aus. Auch das, was ich niemals einem Menschen gesagt hätte. Sie wusste alles von mir – so wie die nahe gelegene kleine Waldkapelle, die mit den Jahren ebenfalls ihren festen Platz bei meinen Besuchen hatte. Auch sie sah mich bereits im Kinderwagen – geschoben von meiner über achtzigjährigen Urgroßtante oder meiner Großmutter.
Auf der Spur des Herzens
Mittlerweile war ich Mönch geworden. Bei meiner Suche nach Gott und Sinn und Lebendigkeit hatte mich die Kraft der uralten Regel des heiligen Benedikt angesprochen. Sie kam mir so vor wie die Eiche auf der Wiese meiner Kindheit. Auch das so vertraute Gefühl des Angenommenseins war mit
dabei. Diese benediktinische Lebensweise ist gut verwurzelt. In ihrem Kreis lässt sich das Leben lernen. Über dem Regal, in dem die Mönchsregel stand, schaute mich auch mein Baum an – oder ich ihn, auf dem einzigen Foto, das ich von ihm hatte. Ich hatte es aufgenommen, eine Woche bevor ich die Welt meiner Kindheit verließ, um im Kloster weiter der Spur meines Herzens zu folgen.Und manchmal führte sie mich in den folgenden Jahren zurück, diese Spur, vor allem wenn wichtige Zukunftsentscheidungen anstanden, meist zu Fuß, aber immer zu meiner Eiche und der kleinen Kapelle im Wald.