Hoffentlich wohnt auch eine Maria in mir

Liebe Schwestern,
liebe Brüder im Herrn,
„Ob Maria wohl ein schlechtes Gewissen hatte? Das frage ich mich schon. Vorher, als sie nur dortsitzt und Martha die ganze Arbeit macht... Oder erst recht nachher, als Jesus Martha auch noch zurechtweist und sie sitzt daneben? Eine Maria, die dann pikiert die Nase hochzieht und zu ihrer Schwester sagt: „Siehst du?“ — die wäre mir recht unsympathisch. Ich glaube, innerlich verbinden könnte ich mich leichter mit einer Maria, die irgendwie ein schlechtes Gewissen hat.
Freilich gibt es Gründe für das, was sie tut. Zu einer guten Gastgeberin gehört auch, Zeit für die Gäste zu haben - nicht nur tätig, nicht nur das Geschehen bestimmend, sondern auch fürs Zuhören. Das wissen all unsere Mitbrüder, die sich bei uns um die Gäste kümmern: Das Zuhören ist ein maßgeblicher Teil der Gastfreundschaft.
Aber wer oft Gäste hat, weiß auch, dass das immer ein Spagat ist. Getränke wollen angeboten, das Essen will vorbereitet sein. Es ist schon gut, dass Marta werkt und macht und tut. Sonst säße Jesus auf dem Trockenen. In der Lesung haben wir von Abraham gehört, der diesen Rahmen der Gastfreundschaft einhält – er läuft los, lässt Wasser bringen, Brot backen, sogar einen Kalbsbraten organisiert er. Und er wird entlohnt. Die Geschichte bestätigt den hohen Wert der Gastfreundschaft und hier heißt das: Ganz praktisch die Sorge für Erfrischung, Trinken und Essen.
Warum wird dann Martha so harsch ermahnt? „Maria hat den guten Teil gewählt“?
Mir scheint, zunächst darf darauf verwiesen werden, dass dieser Stelle eine passiv-aggressive Äußerung Marthas vorausgeht: Warum sagst du Maria nicht, sie soll mir gefälligst helfen? Wenn ich mich in die Szene einfühle, verstehe ich Martha. Sie fühlt sich mit der Arbeit alleingelassen und, dass ihre Schwester ein wenig mit anpackt, ist eigentlich keine überzogene Erwartung. Und doch – die Äußerung fällt vereinnahmend und irgendwie zickig aus, und wenn man genau hinsieht: sie hätte ja auch Maria selbst bitten können: Ach, sei so gut, hilfst du mir grad eben? Das tut sie aber gerade nicht. Vielleicht geht es gar nicht um Hilfe und irgendeine konkrete Handlung. Vielleicht ist da eher eine Art Eifersucht im Spiel, weil Maria - ohne vorher eine Leistung zu bringen - die Zuwendung und das Interesse Jesu erfährt. Während sie, Martha, werkt und macht und tut. Eigentlich sollte doch sie, die fleißige Martha, mit Aufmerksamkeit belohnt werden.
Vielleicht ist das heutige Evangelium ein kleines Lehrstück über das Miteinander der Menschen. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust. Oder in diesem Falle: zwei Frauen und ihre Einstellung zur Begegnung mit anderen. Da werkt und macht und tut eine Martha in mir, die sich sozial einsetzt und ein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft sein will. „Eine verdiente Mitarbeiterin“ — das heißt doch: eine, die sich ihre Sporen verdient hat. Auf die man sich verlassen kann. Wo etwas vorangeht, wenn sie mit an Bord ist. Vielleicht aber auch - das ist die Gefahr - eine, die auf jene herabschaut, die aus ihrer Sicht wenig Leistung bringen. Die gern mal ein bisschen lästert. Nicht immer und ständig, aber doch immer wieder einmal.
Hoffentlich wohnt auch eine Maria in mir. Jemand, der sich seinen Selbstwert nicht erarbeiten muss. Eine Maria, die nicht lieb, angepasst, fleißig sein muss, um eine Daseinsberechtigung zu haben. Die andererseits aber einfach mal zuhören kann, ohne die Unterhaltung selbst in die Hand zu nehmen. Die sich faszinieren lassen kann und die Jesus möglicherweise ein wenig verliebt hinterherschaut. Die ein Gefühl für den besonderen Augenblick hat: Jetzt ist Jesus da — alles andere kann warten. Eine Maria, die so ein bisschen schwebt. Sie mag kurz erschrecken, als Martha wütend aufstampft. Und sie weiß, an sich hat Martha ja recht. Es braucht die alltäglichen Verrichtungen und wir sollen zusammenhelfen, damit keiner die Last alleine trägt. Aber so ein bisschen Schweben, da und dort?
Angenommen, die Erzählung sagt uns eigentlich etwas von Gott. Ich glaube, es gibt viele verschiedene Wege, auf denen die Menschen zu Gott gelangen möchten. Da ist die strukturierte Gottsuche, eingeteilt in Gebetszeiten, morgens, mittags, abends, dazwischen aufgefüllt mit Werken der Nächstenliebe. Zupackend und energisch gestaltet sie die Welt. Aber manchmal stapft sie am Ziel vorbei — was zu Gott führen sollte, wurde zum Selbstzweck. Dann ist da nur noch die Mühe und die viele, viele Arbeit.
Hoffentlich öffnet sich dann jener andere Weg. Wenn ich meine, mir Gottes Zuwendung verdienen zu müssen – hoffentlich schenkt Gott mir dann die Erfahrung, dass er mich auch dort in Händen hält, wo ich keine Leistung bringe. Diese Erfahrung wünsche ich Ihnen, irgendwann mal im Leben: Dass Gott Sie einfach vorbehaltlos lieb hat. Und wenn Sie diese Erfahrung schon einmal gemacht haben, dann soll sie Ihnen niemals genommen werden.
Amen.“
Predigt von Pater Wolfgang Sigler am 20. Juli 2025